Wegschauen scheint unmöglich- die kleinen Müllsammler aus Kalkutta brennen sich in die Netzhaut ein. In der Aula ist es mucksmäuschenstill, als Mohammed Alamgir in drastischen Bildern an tausende Kinder und Jugendliche in den Slums der 15- Millionen- Stadt erinnert.
Die 2009 in Indien eingeführte allgemeine Schulpflicht, die gleichzeitig eine warme Mahlzeit am Tag garantiert, gilt für sie nicht. Das boomende Schwellenland Indien mit der Wachstumsrate von ca. 8 Prozent (2011) ignoriert trotz der demokratischen Verfassung die untersten Kasten der Gesellschaft. Ein Personalausweis wird für viele Bewohner der Elendsviertel nicht ausgestellt, der Mensch existiert nicht, Krankenhäuser und Schulen verweigern den Zugang. Dabei hält die Landflucht ungebrochen an. Aufgrund des Klimawandels häufen sich Überschwemmungen und Dürren, somit die Ernteausfälle.
Überschuldete Familien suchen Zuflucht in den großen Städten. Die Menschen campieren an Bahntrassen und Kanälen. Minderjährige leben auf sich alleine gestellt auf der Straße von nichts anderem als „der Arbeit mit beiden Händen“.
Im Überlebenskampf suchen die Kinder nach verwertbarem Müll. Sie verdingen Glas, Papier und Plastik an Zwischenhändler, um für die Geschwister und Eltern Essbares zu organisieren. Die Müllsammler arbeiten mit bloßen Händen und Füßen, ungeschützt vor Schnittverletzungen und Verätzungen durch Glasscherben und Giftmüll.
„Warum hilft denn niemand! “, ruft eine fassungslose junge Frau spontan in die Runde. Auch die anderen Binger Schülerinnen und Schüler, angehende Fachkräfte für Lagerlogistik, Bürokaufleute, Assistenten für Handel und E- Commerce sowie Officemanagement ringen sprachlos um Lösungen. Auf Marcels Frage „Wie komme ich da raus?“, antwortet Mohammed Alamgir mit seinem beeindruckenden Lebenswerk. Er weiß, wovon er spricht.
Der Gast aus Indien wurde 1954 in den Slums von Kalkutta geboren. Er ist Gründer und Leiter der Nichtregierungsorganisation Tiljala SHED, die durch Bildungs- und Gesundheitsprogramme sowie Kleinkredite und Lobbyarbeit zurzeit 350 Müllsammlerfamilien ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Berufsbegleitende Ausbildungsprogramme befähigen Jugendliche und Frauen, Existenzen zu gründen und im Kleinunternehmen z. B. mit Gewürzen zu handeln, Taschen aus Recycling- Materialien zu vermarkten, in Kooperation mit den Wohngebieten die Abfallentsorgung Kalkuttas zu finanztechnisch fairen Bedingungen zu organisieren. Rehabilitationsmaßnahmen gegen die Folgen der Armut- und Drogenkriminalität, sexuellen Missbrauch und Ausbeutung sind inbegriffen. Schon 7,50 € genügen, um ein Kind mit Schuhen und Arbeitshandschuhen auszustatten.
Das kirchliche Hilfswerk MISEREOR unterstützt Tiljala SHED darum seit vielen Jahren und hat den gläubigen Moslem aus Indien eingeladen, um als Sprachrohr zu wirken, neben dem aktuellen Spendenaufruf, der auf der Homepage unter
http://www.misereor.de/aktionen/fastenaktion/projekte/kalkutta.html auffindbar ist. MISEREOR hat Tiljala SHED 120. 000€ zugesagt.
Herr Alamgir wird nicht müde, von der indischen Regierung die Durchsetzung der Menschenrechte einzufordern. Er beklagt mafiöse Strukturen und hat einen langen Atem. Die Begegnung mit Mutter Theresa, sein Vater als Vorbild und nicht zuletzt sein religiöse Glaube spenden ihm die Kraft.
Erfolge sind sichtbar, wenn die Regierung den Kindern einen Pass ausstellt mit dem Namen und der vagen Adresse „wohnhaft an den Gleisen“. So konnten allein 2011 77 Kinder Zugang zu öffentlichen Schule erhalten. Bildung ist weltweit der Schlüssel zum Aufstieg.
Die Binger Schülerinnen und Schüler hören 90 Minuten lang konzentriert zu, diszipliniert und berührt. Das Aufbegehren gegen Armut hat mit Mohammed Alamgir ein Gesicht.
Als die Schulglocke gongt, hoffen die Organisatoren der Veranstaltung, dass das Kompetenzziel des Tages erreicht ist. Das Hilfswerk MISEREOR, das Bistum Mainz und die Berufsbildende Schule Bingen danken dem Lernpartner für globales Lernen Tiljala SHED. Auch im 21. Jahrhundert heißt die Großbaustelle „Ich engagiere mich für eine solidarische Welt“.
Im Spiegel Kalkuttas wächst nicht zuletzt die Sensibilität für die soziale Spaltung in Deutschland vor Ort. Sieben Millionen Einwohnern mit Migrationshintergrund wird in Deutschland die politische Teilhabe an Wahlen verwehrt. Kinderarmut hat hierzulande drastisch zugenommen. Auch auf deutschen Bahnhöfen trifft man auf Menschen, die Mülleimer verstohlen nach Plastikpfand durchwühlen.
Trotzalledem: Armut ist relativ. Gesucht sind Menschen, die Tiljala SHED unterstützen. Schauen Sie als Leser, schau du liebe Leserin und lieber Leser nach oben. Ein Mausklick öffnet den Link. Dein Beitrag ist willkommen.
Bilder von der Veranstaltung:
Mohammed Alamgir
Herr Alamgir und die Dolmetscherin Martina Heimermann von Misereor
Die Schüler hören gebannt zu.
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Die Zuhörer
Mohammed Alamgir